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Erstmals seit 1938: eine Bar Mizwa in St. Pölten

Am 7. September wurde im Rathaus Geschichte geschrieben: Erstmals seit 85 Jahren wurde in St. Pölten eine Bar Mizwa gefeiert. Historikerin und wissenschaftliche Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs (Injoest) Martha Keil berichtet über das historische Ereignis.

Präsentation der Torarolle im Gemeinderatssaal: Vater Alon, Sheizaf und Großvater Azri Carney. (Foto: Familie Carney)
Präsentation der Torarolle: Vater Alon, Sheizaf und Großvater Azri Carney. (Foto: Familie Carney)
Präsentation der Torarolle im Gemeinderatssaal: Vater Alon, Sheizaf und Großvater Azri Carney. (Foto: Familie Carney)
Alon und Sheizaf Carney, GR Gregor Unfried in Vertretung von Bürgermeister Matthias Stadler und Revital Carney bei der historischen Feier im Rathaus. (Foto: Christian Krückel)

“Warum ich meine Bar Mizwa hier feiere und nicht irgendwo anders? Weil mein Urgroßvater Abraham Harry Reiss hier aufgewachsen ist und hier die Bibel gelesen hat, und ich beschlossen habe, dass auch ich hier die Bibel lesen werde.“

So begründete Sheizaf Carney aus Israel das denkwürdige Ereignis, das am 7. September vormittags in St. Pölten stattfand: seine Bar Mizwa (wörtl.: Sohn des Gesetzes), das jüdische Fest der religiösen Mündigkeit, das ein Mädchen mit 12 und ein Junge mit 13 Jahren begehen. Ab nun sind die Jugendlichen im religiösen Sinn erwachsen, also für ihre Taten verantwortlich. In einem der Gottesdienste in der Woche nach dem 13. Geburtstag liest der Bar Mizwa den für diese Woche vorgesehenen Abschnitt der Tora, der Fünf Bücher Moses. Sheizafs Wochenabschnitt war Deuteronomium 29,9–30,20, in dem beschrieben wird, wie Gott mit allen damals Gegenwärtigen und auch mit allen künftigen Generationen seinen Bund schließt.

Gottesdienst im Rathaus

Der Wunschort für dieses feierliche Ereignis wäre selbstverständlich die Ehemalige Synagoge gewesen, was allerdings wegen der noch bis Frühjahr laufenden Renovierung nicht möglich war. Doch fand sich dank der Gastfreundschaft von BM Matthias Stadler eine andere symbolträchtige Lösung: 22 Mitglieder der Familie, sechs Mitarbeiter/innen des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs (Injoest) sowie GR Birgit Becker versammelten sich im Gemeinderatssitzungssaal des Rathauses, um Sheizafs erste öffentliche Toralesung und den Gebeten und Segenssprüchen der Eltern, der vier Brüder und der Großeltern zu lauschen. Auch wenn der Gottesdienst zur Gänze hebräisch war, übertrug sich doch die Verbundenheit mit der jüdischen Tradition und die Liebe und Berührtheit der Familie auch auf diejenigen, die kein Wort verstanden. Eindeutig verständlich waren aber der frenetische Applaus nach der langen Toralesung und die Kaskaden von Zuckerln, die vor allem die zahlreichen Kinder auf Sheizaf, seinen Vater Alon und seinen Großvater Azri schossen.
Wie es die Tradition erfordert, hielt Sheizaf zu seinem Wochenabschnitt eine Predigt, in der er wortgewandt und witzig seine Gedanken äußerte, vor allem auch zu den starken Wurzeln seiner multikulturellen Herkunft mit Vorfahren aus dem Jemen, Marokko, Polen, Russland und Österreich. Krönung war schließlich seine Darbietung des Walzers „An der schönen blauen Donau“ auf der Geige.

Eine lange Beziehung

Die Beziehungen zwischen der Familie Reiss und dem Injoest begannen 1996, als Christoph Lind seine Forschungen zur vernichteten jüdischen Gemeinde von St. Pölten aufnahm und ich auch mit Abraham Harry Reiss, Sheizafs Urgroßvater, in Kirjat Malachi (Israel) ein Interview führte. Er stellte uns wertvolle Informationen und Fotos zur Verfügung, kam zwei Jahre später auf Einladung von Stadt und Land nach St. Pölten und wie mit vielen anderen vertriebenen Jüdinnen und Juden blieb der Kontakt mit seiner Familie eng und freundschaftlich. 2022 setzten wir seinen Eltern Isidor und Irma Reiss vor ihrem letzten Wohnsitz in der Linzer Straße 13 einen Stein der Erinnerung – zur Zeremonie reisten 16 Angehörige aus Israel an. Dass aus Trauer und Gedenken ein Fest der Freude und Zuversicht entstehen würde, ahnten wir damals noch nicht.

Gestärkt werden die Beziehungen zu den jüdischen Familien St. Pöltens nicht nur durch die Steine der Erinnerung, sondern auch durch die Gräber ihrer Vorfahren. Auch die Familie Carney begann den Tag der Bar Mizwa mit Gebeten auf dem jüdischen Friedhof in der Karlstettner Straße 3. Der Grabstein der Ururgroßeltern Adolf und Paula Reiss wurde gerade restauriert und lag vor dem Grab, die Zeremonienhalle war eingerüstet. Dass der vom Verfall bedrohte Friedhof nun endlich renoviert wird, berührte die Familie sehr. Sheizafs Mutter Revital brachte diese emotionale Beziehung in ihrer Dankesrede im Rathaus zum Ausdruck: „Wir kamen von Israel und in einigen Tagen gehen wir dorthin zurück, aber unsere Familie wird St. Pölten verbunden bleiben, in einem unzerstörbaren Band. Wir hoffen, diese Verbindung an die nächsten Generationen weiterzugeben.“

Die Bar Mizwa von Sheizaf Carney war ein bedeutender und denkwürdiger Meilenstein für ihn und seine Familie, für das Injoest und nicht zuletzt auch für die Stadt St. Pölten. Mögen weitere folgen, am dafür würdigsten Ort, der Ehemaligen Synagoge St. Pölten!

Martha Keil

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