St. Pölten Konkret: In Ihrem Buch „Stadt – Land – Klima“ sagen Sie ganz klar, der Klimaschutz liegt in der Stadt. Warum?
Gernot Wagner: Dichte und Effizienz. Alles, was man zum Leben so braucht, ist in Gehdistanz. 15 Minuten mit dem Rad und man ist überall. Das Resultat: Die CO₂-Emissionen pro Person sind in der Stadt etwa die Hälfte oder sogar ein Drittel jener im Speckgürtel. Und je dichter die Stadt, desto näher ist die Natur! Rad plus Klima-Ticket und man weilt unter den Marillenblüten am Samstagabend, Faltrad und Laptop im Gepäck und man ist in jedem Büro zwischen München und Wien am Montagmorgen. Das klingt jetzt alles vielleicht zu gut, aber St. Pölten ist da schließlich wirklich gesegnet. In New York kann ich vom Direktzug zur Talstation mit der Gondel auf 2.000 Meter nur träumen.
Sie verstehen Ihr Buch als Liebeserklärung an die Stadt. Was macht den Unterschied zu den Suburbs und Speckgürteln?
Also ja, Liebeserklärung an die Stadt ist es bestimmt. Aber eben auch eine Liebeserklärung an das Land, das wirkliche Land. Stadt macht Land erst möglich, umgekehrt genauso. Und darum geht's: Am Land vom Land leben ist toll – in jedem Sinn. CO₂-Emissionen pro Person sind am Land etwa ebenso niedrig wie in der Stadt. Aber so leben ja die Wenigsten, quasi per Definition. Die Einfamilienhaussiedlung, der große Supermarkt mit dem Parkplatz der groß genug ist, dass jeder aus der Siedlung am Samstagvormittag gleichzeitig zum Großeinkauf fahren kann, das hat doch bitte nichts mit Land zu tun.
Wie überzeugt man junge Menschen die Stadt einem Einfamilienhaus in einer Wohnsiedlung im Speckgürtel vorzuziehen?
Man muss die Stadt noch attraktiver machen. Ich sage bewusst „noch attraktiver“. Der Quadratmeter in gewissen Wohnvierteln kostet ja teils mehr als im dazugehörigen Speckgürtel. Das wird oft als Begründung genannt. Für mich, als Ökonom ist es vor allem ein Zeichen der Attraktivität – und ein Preissignal mehr eben dieser attraktiven Dichte anzubieten, damit sich die nächste Jungfamilie gerne für Stadt anstatt dem Einfamilienhaus im Speckgürtel entscheidet. Darum geht's auch: Entscheidung, Wahl. Die hat zwei Seiten. Da muss sich auch in Sachen Lebenseinstellung so manches verändern – dass die Optimierung der eigenen Lebenssituation im Vordergrund steht, nicht schlicht die Quadratmetermaximierung.
Sie sind mit dem Zug unterwegs – wie war die Anreise?
Bequem, schnell, effizient, CO₂-arm. Freut mich, dass Sie mich nicht über die CO₂-Bilanz meines Fluges aus New York gefragt haben. Aber der hat ja Gott sei Dank wenig mit der täglichen Lebenssituation zu tun. Und ja, Stadtwohnung plus Urlaub mit Nachtzug ist besser als Stadtwohnung plus Urlaubsflug ist besser als Speckgürtel plus Flug. Reisen ist ebenso ein komplexes Problem, wo sich von Angebot bis Nachfrage, von Lebenseinstellung bis Politik viel ändern muss.
Stichwort Stadt der kurzen Wege – was gehört hier alles dazu?
Auf gut Englisch, Mixed-Use Housing. Also nicht die Wohnsilos da und die Bürotürme dort und die Schulen woanders, sondern eben alles bunt gemischt. Diversität, mit dem Greißler zwischen Kindergarten und eigenem Arbeitsplatz. Das gilt ebenso für Mobilität. Vom Elektrobus im 10-Minutentakt zum Radweg zum Scooter-Abstellplatz. Der Punkt ist, dass nichts hier „alternativ“ ist, sondern einfach divers. Freiheit eben.
Inwiefern ist dies klimarelevant?
Enorm. Mobilität ist schließlich eine Erweiterung des eigenen Zuhauses. Die beiden sind unmittelbar miteinander verbunden. Die Garage gehört zum Einfamilienhaus im Speckgürtel wie die Hängevorrichtung fürs Rad an der Wand der New Yorker Loft. Ok, das Rad an der Wand im Wohnzimmer ist vielleicht ein Extrembeispiel, aber ebenso sollte es das Verständnis sein, dass jede Familie ein Auto braucht, um zwei Liter Milch nach Hause zu holen. Und ja, ich habe in New York tagtäglich innerhalb von 10 Gehminuten einen Bauernmarkt, auf denen wir 90 Prozent unserer Lebensmittel kaufen. Die CO₂-Bilanz ist dementsprechend niedrig und die Lebensqualität dementsprechend hoch.
Die Umsetzung großer Wohnbauprojekte wird von Teilen der Bevölkerung negativ wahrgenommen. Ist das aus Ihrer Sicht in Bezug auf den Klimaschutz berechtigte Kritik?
Gar nicht. Also natürlich darf in der Stadt nicht alles grau in grau sein. Ist es ja auch nicht! Balance ist wichtig. Aber ja, Nachverdichtung in der Stadt bedeutet mehr Menschen ein Leben inmitten der Stadt zu ermöglichen. Klima und Natur sagen danke. Die Bodenversiegelung ist beim Einfamilienhaus natürlich um einiges größer als bei der Stadtwohnung.
Mit der Umgestaltung des Promenadenrings wird eines der größten Schwammstadtprojekte Österreichs realisiert. Damit soll nachhaltig mehr Platz für Mensch und Natur in der Innenstadt geschaffen werden.
Ausgezeichnet. Wie gesagt, Balance ist wichtig, und ein grüner Loop um die Innenstadt klingt da schon mal fantastisch. Oft heißt das dann, dass eine bestimmte Straße für den Durchzugsverkehr „geschlossen“ wurde. In New York heißen solche Straßen „Open Streets“. Das sind sie auch: für Menschen geöffnete Straßen. Schwammstadt setzt dann nochmals ein Tüpfelchen aufs „i“. Für mich ist das Ideal einer Straße jenes, wo sich die Bäume „die Hand geben“, wo sich die gesunden, großen Kronen berühren. Das kühlt an heißen Sommertagen, es macht die Vorweihnachtszeit romantischer, es macht Stadt noch klimafreundlicher, attraktiver. Was ist daran nicht zu mögen?
Aufgewachsen sind Sie im Amstetten der 80er- bzw. 90er Jahre. Welche Wahrnehmung hatten sie in dieser Zeit von der Landeshauptstadt?
Also da gab's die „St. Pölten Oma“ – eigentlich meine Ur-Oma – in der kleinen Stadtwohnung neben dem Bahnhof. So ging's ein paar Mal im Jahr per Zug in die große Stadt. Zehn Minuten zu Fuß zum Bahnhof in Amstetten, gefühlte drei Minuten zu Fuß zur Ur-Oma. Im Gymnasium in Amstetten gab's dann den ein oder anderen Trip in die Landeshauptstadt. Ich kann mich noch an eine „Konferenz“ im Landtag erinnern: Sakko, Krawatte, gewichtige Themen – zumindest für einen 14- oder 15-Jährigen. Ich durfte dem Landeshauptmann erst eine Frage stellen und dann die Hand schütteln. Meine erste tatsächliche Berührung mit der hohen Politik und der großen Welt.
Über Gernot Wagner
Der gebürtige Amstettner unterrichtet und forscht an der Columbia Business School, davor an der New York University und der Harvard University. Er ist Co-Autor des Buches „Klimaschock“, dem Wissenschaftsbuch des Jahres 2017. 2021 erschien sein Buch „STADT, LAND, KLIMA – Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Erde retten“ im Brandstätter Verlag. 2022 wurde er zum „Österreicher des Jahres“ in der Kategorie „Erfolg international“ gekürt.