Der Klang von St. Pölten

Hoch hinauf auf die Türme der Stadt und ein Blick zurück in die Geschichte: Bürgermeister Matthias Stadler zeigt bei einem Rundgang sein ganz persönliches St. Pölten.
Behände zieht Matthias Stadler sein Handy hervor, tippt, dann hebt er den Blick. »Vorsicht, jetzt kann es ein bisschen laut werden.« Der St. Pöltner Bürgermeister steht mit seinen Gästen hoch oben im Glockenturm des Rathauses der Landeshauptstadt. Um ihn herum: 48 Glocken, die – im Umfang von vier Oktaven – musikalisch so ziemlich alle Stückerl spielen und die der Bürgermeister soeben mittels App aktiviert hat.
Die Fenster des historischen Turms – einst errichtet, um nahende Feinde jenseits der Stadtmauern frühzeitig zu erspähen – öffnen sich und geben den Blick auf die Stadt frei. Schon wird es ohrenbetäubend laut, als die Europahymne über den Rathausplatz hinweg durch die Stadt schallt, die der Bürgermeister für die Vorführung ausgewählt hat. Wie passend. »Quo vadis Europa?« steht auch in leuchtenden Lettern auf dem Dach des Rathauses geschrieben. Ein Statement, das dem Bürgermeister, der seit 2004 im Amt ist, gut gefällt.
GLOCKENSPIEL IM RATHAUS
Das Glockenspiel wurde im Jahr 2022 realisiert, in enger Abstimmung mit der lokalen Wirtschaft, die die Finanzierung organisiert hat. Die Idee kam vom Bürgermeister selbst. Seither erklingt es mehrmals täglich – mit einer breiten Palette an Liedern. Von Klassik bis Popmusik ist alles dabei.
Was tagesaktuell auf dem Programm steht, können Besucher der Stadt auf einer Tafel vor dem Rathaus ablesen. Außertourlich erklingt das Glockenspiel übrigens immer dann, wenn ein neuer St. Pöltner (oder eine St. Pöltnerin) das Licht der Welt erblickt: Die Hebammen geben direkt nach der Entbindung die Geburt im krankenhauseigenen Erfassungssystem ein, wodurch eine automatische SMS an das digitale System des Glockenspiels versendet wird. Für alle Neugeborenen wird dann eine eigens komponierte Willkommensmelodie abgespielt.
Das Glockenspiel, gut versteckt im Turm, passt zu St. Pölten: Das Besondere der Stadt offenbart sich nicht immer auf den ersten Blick, das zeigt sich beim Falstaff-Rundgang des Bürgermeisters durch seine Stadt. Manchmal muss man eben genau hinschauen. So wie auch im barocken Bürgermeisterzimmer, in das der Weg nach dem Besuch des Turms führt.
ZEITLOSE TUGENDEN
Es ist eines der wohl schönsten Österreichs – und Stadler, studierter und vor allem leidenschaftlicher Historiker – ist sofort in seinem Element, als er zu erzählen beginnt: Von der Stuckdecke, die im Jahr 1722 vom St. Pöltner Stuckateur Christoph Kirschner geschaffen wurde; von der politischen Ahnengalerie seiner Vorgänger, die hier in Öl festgehalten sind; von den acht göttlichen und kaiserlichen Tugenden, die als Plastiken von der Decke herab seine Arbeit überwachen. Wichtig sind alle Tugenden, eine aber hat der Bürgermeister von seinem Sessel am Besprechungstisch aus immer im Blick: die Weisheit.
Das Zimmer selbst ist für Besucher an sich nicht zugänglich – was so manch Mutigen aber nicht abschreckt, wie Stadler mit einem Schmunzeln erzählt: So sei es durchaus schon vorgekommen, dass Touristen aus Asien, die die Barockdecke unbedingt in Augenschein nehmen wollten, an seinem Sekretariat vorbei direkt an seine Bürotür geklopft haben. Stadler, der hier auch eine wöchentliche Bürgersprechstunde abhält, hat die Gäste eingelassen.
AM OHRWASCHL-PLATZ
Dann zieht es den Bürgermeister auf seinem Rundgang zu einem weiteren Highlight der Stadt – zum neu gestalteten Domplatz. Der Weg führt über den »Ohrwaschl-Platz«, der in Wahrheit natürlich nicht so, sondern Riemerplatz heißt. Die St. Pöltner nennen ihn aufgrund der Skulptur so, die hier steht: ein überdimensionales Ohr, das gerne auch als »offenes Ohr des Bürgermeisters« bezeichnet wird. Die politische Botschaft ist selbsterklärend. Stadler – wieder ganz Historiker – hat auch zum Riemerplatz so einiges zu erzählen. Oder, genauer gesagt, zum »Englischen Fräulein«, das hier ganz in der Nähe liegt.
Das »Mary Ward Gymnasium«, wie die Schule eigentlich heißt, ist Teil der Stadtgeschichte. Ab 1706 kamen Nonnen der Congregatio Jesu, gegründet von der britischen Adeligen Mary Ward, nach St. Pölten und errichteten hier die erste Frauenbildungseinrichtung. Die Schule hat eine berühmte Absolventin: Paula Preradovic´, Widerstandskämpferin und Verfasserin des Textes der österreichischen Bundeshymne.
Am Domplatz angekommen, ist dann Zeit für eine Pause, die den Bürgermeister in »das römer« führt – zu einem Glas Weißwein und Tapas. Das Lokal am Platz ist einer der Neuzugänge in der Kulinarikszene der Stadt, die Stadler insgesamt glücklich stimme, wie er sagt: »Sie hat sich toll entwickelt, vom Sechs-Gänge-Menü bis zur Hausmannskost in guten Wirtshäusern findet man in St. Pölten mittlerweile alles.« Und wer selbst kochen wolle, wird am Markt bei den lokalen Produzenten fündig, den Stadler (selbst am Herd nicht unbewandert) gerne besucht, wann immer er kann. Das eigene Lieblingsgericht will er als erfahrener Politiker nicht verraten: »Sonst krieg ich in Zukunft überall nur noch das.«
Weißwein, Tapas und eine gute Aussicht: Stadler bei einer Verschnaufpause im »das römer« am neu gestalteten Domplatz.
© Xenia Trampusch
Nach der kurzen Verschnaufpause führt die Reise wieder in die Geschichte – und erneut nach oben. Und zwar in den Turm des Doms. Auch für ihn hat man sich ein ambitioniertes Projekt überlegt: Bis in die 1960er-Jahre gab es einen Glöckner, der hier in 50 Metern Höhe eine kleine Unterkunft im Turm bewohnte. Geht es nach Stadler und der Verantwortlichen im Dom, soll das Glöcknerzimmer bald wiederbelebt werden – nach dem Vorbild anderer Städte, die Gäste auf Sinnsuche einladen, eine Zeit lang als moderner Eremit in luftiger Höhe zu leben.