Besser als ihr Ruf

Einst wurde sie mit abwertenden Spitznamen belegt, heute ist St. Pölten eine Stadt mit Selbstbewusstsein. Zu Recht: Dank leistbarem Wohnraum freut man sich über ein Rekordwachstum, bietet Hoch- und Popkultur und auch die Haubenküche hat längst Einzug gehalten.
Ein Land ohne Hauptstadt ist wie Gulasch ohne Saft.« Dieser legendäre Satz stammt von Landeshauptmann Siegfried Ludwig, als sich Niederösterreich im Jahr 1986 auf die Suche nach einer Landeshauptstadt machte. Nach dem Ja der Wähler für St. Pölten, ließ Ludwig Hinweisschilder auf der Autobahn montieren. Hier geht’s lang, wir wollen keine Durchfahrtsgemeinde mehr sein. Heute kann man sagen: Das Gulasch steht im Saft.
Dabei kann man die Stadt an der Traisen auch ganz wunderbar im Rückwärtsgang erleben. Denn wer durch die Gassen im Zentrum spaziert, der atmet Geschichte. Hier ist eine Rundreise durch die Jahrhunderte möglich, die zu Fuß nur ein paar Minuten dauert. Beginnend am Rathausplatz, der um 1200 in seiner heutigen Form angelegt wurde. An der Südseite thront das Rathaus, im Norden die Franziskanerkirche. Und mittendrin, da steht seit vielen Generationen die Dreifaltigkeitssäule, die St. Pölten vor Krieg, Feuer, Erdbeben und Seuchen schützen soll.
DAS BESONDERE FINDEN
Ein paar Schritte weiter und man steht in der zweitältesten Fußgängerzone Österreichs. Die Kremser Gasse, die vom Riemerplatz bis zum Bahnhof reicht, lädt heute zum Flanieren und Einkaufen ein. Hier lässt sich auch das Besondere finden, etwa das Hutfachgeschäft von Anna Öckher, deren Ururgroßvater Josef Stingl im Jahr 1865 zum ersten Mal die Rollläden hochzog.
Ganz nahe ist da auch schon der Herrenplatz mit seiner Mariensäule und den Bürgerhäusern, die von prächtigen Barockfassaden geziert werden. Von hier gibt es zwei Möglichkeiten, die Stadt weiter zu erkunden. Geht man am Brunnen »Tratschende Weiber« vorbei, liegt vor einem der neu gestaltete Domplatz. Hier hat die Stadt ein weiteres, neues Kapitel aufgeschlagen. Die Stadtbücherei ist in das ehemalige Oberbank-Haus übersiedelt, auf einer Fläche von 1400 Quadratmetern findet sich eine riesige Auswahl aus 52.000 klassischen Medien, regelmäßig laden Autoren zu Lesungen ein.
Macht man sich vom Herrenplatz in die Gegenrichtung auf, dann landet man auf dem Riemerplatz. Hier steht ein Kunstwerk, das von den Einheimischen liebevoll »Ohrwaschl« genannt wird. Die Skulptur, die von einer Marmorbank umrundet wird, soll das offene Ohr des Bürgermeisters versinnbildlichen.
Aber nicht nur das historische Fundament ist an nahezu jeder Ecke greifbar, hier ist auch noch etwas ganz anderes spürbar: Selbstbewusstsein. Früher war St. Pölten noch ein Witz. Ganze Generationen arbeiteten sich an ihm ab. »Stinkstadt« wurde es genannt, weil die Fabrik Glanzstoff nach faulen Eiern roch. Doch die Fabrik gibt es längst nicht mehr, heute wird sie als Eventlocation genutzt. Auch die Bezeichnung »Schnarchstadt« lässt die Einheimischen nur noch gähnen, weil sie einfach nicht stimmt.
Von jedem Fleck aus ist man in nur fünf Minuten im Grünen
Internationale Produktionen im Landestheater und im Festspielhaus, das Kino »Cinema Paradiso« oder die Bühne im Hof, die Kabarett vom Feinsten bietet. Ganz schön viel Kultur für die jüngste Landeshauptstadt Österreichs. Zudem hat sich mittlerweile der neu gestaltete Domplatz als Konzertbühne etabliert. Das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich sowie die schwedische Elektropop-Ikone Fever Ray haben hier schon gespielt, im vergangenen Sommer begeisterte Zucchero, der Vater des italienischen Blues, Tausende Fans.
Das Tonkünstler-Orchester lässt den Domplatz bei seinen Konzerten in den schönsten Tönen erklingen.
(Foto: Josef Bollwein)
Und ja, es stimmt wirklich, St. Pölten hat auch ein Nachtleben. Gleich beim Rathaus, um die Ecke, serviert Oliver Kloiber im »Yesterday« Cocktails. Kloiber, der, wie er sagt, »alte Bar-Werte noch hochhält«, räumte zuletzt 91 Falstaff-Punkte ab. Nur einen Steinwurf entfernt, im »MacLaren’s Pub«, gibt es Bier, Burger und Karaoke-Nächte. Wer einen Drink mit Aussicht genießen und dabei über die Stadt blicken will, der ist im Hotel »Das Alfred« bestens aufgehoben. Von der Loungebar kann man gemütlich zum Bowlingcenter gehen oder gleich nebenan im »Warehouse« tanzen, bis die Sonne aufgeht.
LEISTBAR UND LEBENSWERT
Vielleicht ist es genau dieser Mix aus Alt und Neu, der dazu geführt hat, dass sich die Landeshauptstadt über ein Rekordwachstum freuen darf. Die Statistik Austria meldete Anfang 2024 mit 58.864 Personen einen Zuwachs von 2,1 Prozent. Dieses Plus konnte keine andere Stadt vorweisen. Die Landeshauptstadt ist vor allem auch für Pendler sehr attraktiv. Auf der schnellen Schiene ist man in knapp 20 Minuten in Wien, auf der Straße rasch in der Wachau, die Westautobahn führt sogar durchs Stadtgebiet. Auch das Wohnen kann man sich in St. Pölten noch leisten. Eigentum ist etwa in Innsbruck dreimal so teuer wie hier. Wenn man mit den Menschen spricht, gibt es aber vor allem einen Grund, warum es immer mehr hierherzieht: die Natur.
Von jedem Fleck in St. Pölten aus ist man in nur fünf Minuten im Grünen. Das ist kein Marketing-Gag. Es gibt Parks, im Zentrum wie auch außerhalb. Auf ein Projekt ist man aber besonders stolz. Nachdem die Alumnatsgasse in eine Fußgängerzone umgewidmet wurde, gestaltete die Stadt den Alumnatsgarten um und machte ihn für jedermann zugänglich. Der Kaiserwald und der Hammerpark sind die grünen Lungen dieser Stadt, sogar neben dem Hauptbahnhof kann man im Sparkasse-Park Ruhe unter Bäumen finden.
Auf dem Fahrrad sei ein Ausflug zum Seenparadies empfohlen. Die Viehofner Seen und der Ratzersdorfer See bieten im Sommer Abkühlung, in der kalten Jahreszeit kann man traumhafte Spaziergänge unternehmen. St. Pölten ist auch längst keine kulinarische Wüste mehr. Wer italienisches Flair und eine authentische Pizza sucht, der sollte im »La Dolce Vita« am Rathausplatz einkehren, in Sichtweite lockt das Restaurant »Rhodos« mit griechischen Spezialitäten. Die Haubenküche hat in der Landeshauptstadt ebenfalls längst Einzug gehalten, ob im »Aelium« im Zentrum oder im »Vinzenz Pauli« am Alpenbahnhof.
Die jüngste Landeshauptstadt hätte gerne noch einen weiteren Titel: die älteste Stadt Österreichs. In St. Pölten war es Bischof Konrad II. von Babenberg, der am 3. Mai 1159 einem Teil der Bürger (»burgenses«) St. Pöltens gerichtliche Privilegien verlieh. Das Originaldokument gibt es zwar nicht mehr, wohl aber eine Abschrift. St. Pölten hat eine abenteuerliche Reise hinter sich. Und es gibt immer mehr Menschen, die sich hier angekommen fühlen.